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EMP - Ein Survivalroman

Kapitel 32


  
Eine Nachricht von Ulli versetzte mich schon am Morgen in Feiertagsstimmung. Es ging ihm gut und er schien sogar zufrieden mit seiner aktuellen Situation zu sein. Das Helfen in einem Flüchtlingslager schien mir zwar nicht wie eine verlockende Aufgabe, aber vielleicht waren Ullis Fähigkeiten gefordert und dann war man ja meistens zufrieden. Wir antworteten ihm beide postwendend, damit er unsere Nachrichten möglichst schnell bekommen würde.

Wie angekündigt fanden wir auch eine Nachricht vom Münchner Militär vor. Sie waren an einer lockeren Zusammenarbeit interessiert und wollten ausserdem gern mehr über unsere Technologie wissen, um ein militärisches Parallel-Netz aufbauen zu können. Die militäreigenen Kommunikationsnetze hatten den Zusammenbruch wohl nicht so gut überstanden.

Felix freute sich über das Interesse an seiner Kreation und liess es sich nicht nehmen, einige ausgiebige Infotexte zu verschicken. Schon nach kurzer Zeit antworteten die Münchner hocherfreut über die Fülle an Informationen. In einem Nebensatz erwähnten sie, dass sie die Nachrichten an den zivilen Lagerleiter Burkhardt per Bote weiterleiten würden.

"Ziviler Lagerleiter?", fragten wir beide wie aus einem Munde und schauten uns dabei rätselnd an. Das brachte uns beide zum Lachen. Wir beschlossen, Ulli bei unserer nächsten Nachricht danach zu fragen, denn "Helfer bei der Organisation des Flüchtlingslagers" klang irgendwie anders als "ziviler Lagerleiter". Es klang so, als hätte Ulli sich in ein grosses Abenteuer gestürzt. Aber anscheinend fühlte er sich ja wohl in seiner Situation und das war die Hauptsache.

Auch von Fritz war wieder eine Nachricht eingetroffen. Er war dabei, mit den älteren Nachbarn eine Dorfwehr aufzubauen, was wir für eine gute Idee hielten.

Nur Ronja liess nichts von sich hören, aber von Berlin aus hatte sie es auch schwerer als ihre Brüder. Schon dass Ulli sich gemeldet hatte, grenzte an ein kleines Wunder.

Felix wollte den Tag nutzen, um mit zweien der Männer aus dem kleinen Nachbardorf im Wald Altholz zu sammeln. Auch ein paar erste Bäume wollten sie fällen, um das Verfahren und die vorhandenen Werkzeuge auszuprobieren. Daher packte Felix mehrere Äxte, eine Bügelsäge, einige Keile und Seile zusammen. Dass Lutz Schweizer schon Erfahrung im Baumfällen hatte, war ein echter Vorteil, denn um das Fällen von Bäumen waren wir bisher herumgekommen.

Zu meiner Überraschung brachten die Männer auch die schwangere Beate Schweizer mit. Das gab meinem Tag etwas Abwechslung, denn im Garten hatte ich in den letzten Tagen schon genug umgegraben. Wir setzten uns eine Weile bei einem Tee in die Küche, um uns besser kennenzulernen. Sie erzählte mir von ihrer Schwangerschaft, die von der medizinischen Seite bisher gut verlaufen war. Für das Gefühl war sie aber das reinste Desaster, denn zuerst wurde sie vom Vater des Kindes sitzengelassen und als sie sich gerade bei ihren Brüdern etwas eingelebt hatte, kam der EMP-Schlag. Jetzt fragte sie sich ausser der medizinischen Unsicherheit auch, ob es gut war, ein Kind in diese Welt zu setzen.

"Nun, die Welt wird weitergehen, wenn auch etwas anders als bisher. Und die Welt wird Kinder brauchen, die heranwachsen und später an ihr mitgestalten. Als ich meine Kinder bekommen habe, wurde ich auch schon von vielen gefragt, ob ich wirklich in diese schreckliche Welt Kinder setzen wollte. Und jetzt sind sie schon erwachsen und helfen anderen Leuten, diese schwierige Zeit zu überstehen.", versuchte ich Beate aufzumuntern.

"Vor der Geburt habe ich auch viel Angst. Wir wollten zwar in eine anthroposophische Klinik zu einer sanften Entbindung gehen, aber da hätten sie alles für den Notfall bereit gehabt.", gab Beate zu bedenken.

"Das ist durchaus richtig und bei einem echten Notfall sieht es wirklich schwierig aus ohne Klinik in erreichbarer Nähe. Aber ich habe reichlich Erfahrung mit Hausgeburten, darum sehe ich der Geburt recht zuversichtlich entgegen. Bei einer Hausgeburt entstehen viele Problemsituationen gar nicht erst, die man in einem Krankenhaus dann mit Notfallmedizin bekämpfen muss. Es gibt keinen künstlichen Wehentropf, der die Geburt aus dem Rhythmus bringt, man ist zuhause und fühlt sich nicht fremd in einer unbekannten Umgebung, man kann sich bewegen, wie man will und dergleichen Dinge mehr. Durch Hocken beim Pressen kann man beispielsweise so manche Zangengeburt verhindern.", beschrieb ich Beate die Vorteile einer Hausgeburt.

In Wahrheit war ich nicht ganz so zuversichtlich, denn bei den Geburten, die ich erlebt hatte, war immer eine erfahrene Hebamme anwesend und eine Klinik in erreichbarer Nähe gewesen. Die Klinik war zwar glücklicherweise nie nötig gewesen, aber sie gab ein Gefühl der Sicherheit im Hintergrund. Von den Hebammen hatte ich jedoch so manchen Kniff gelernt, wie man bei kleinen oder mittleren Schwierigkeiten die Geburt in die richtigen Bahnen lenken konnte.

Da die richtige Vorbereitung für eine leichte Geburt von enormer Bedeutung ist, unterhielten wir uns auch ausführlich über alles, was man während der Schwangerschaft tun konnte, um sich gut vorzubereiten.

Wir wollten gerade mit einigen praktischen Übungen anfangen, als unser Überwachungsbildschirm anfing zu piepsen, weil er einen Eindringling aufgespürt hatte. Zuerst erschrak ich fast zu Tode, denn bisher hatte unsere Überwachung noch nie angeschlagen und das ausgerechnet jetzt, wo Felix weg war und ich eine schwangere Frau zu Besuch hatte.

Ich eilte zum Bildschirm, um mir den Eindringling anzusehen. Zu meiner grossen Erleichterung stellte sich der Eindringling als eine Frau mit rundem Bauch und ein Kind im Schulalter heraus. Die Frau war offensichtlich Frau Eberle aus dem grossen Dorf. Welch ein weiter Weg für eine Schwangere, vor allem wegen der Steigung. Aber die Steigung hatte ja auch Beate Schweizer nicht abgehalten herzukommen. Dieser sagte ich kurz Bescheid, um was für Eindringlinge es sich handelte, dann ging ich zur Tür, um die Gäste willkommen zu heissen. Nach der Begrüssung stellte Frau Eberle mir den 12-jährigen Jungen als Trolli vor.

Anscheinend guckte ich etwas verduzt, als ich den Namen hörte, denn der Junge meldete sich zu Wort: "Das ist mein Spitzname und alle nennen mich Trolli.".

"Ok, dann werde ich dich auch Trolli nennen.", sagte ich amüsiert.

Trolli hatte zwanzig Kilo Getreide in einem Wägelchen mit nach oben gezogen. Dieses Getreide wollte Frau Eberle bei mir gegen neuen Kräutertee eintauschen, denn der Tee hatte ihr gut geholfen. Über das Getreide freute ich mich sehr, denn wir konnten es gut gebrauchen. Die Hälfte bot ich jedoch Beate Schweizer an, denn ihre Familie hatte Getreide noch viel nötiger als wir.

Als Motivation für das Hochschleppen des Getreides hatte Frau Eberle Trolli erzählt, dass wir sehr viele Bücher haben, denn Trolli war totunglücklich, dass er nicht zu seiner geliebten Bibliothek in die Stadt fahren konnte angesichts der Notsituation. Gerne liess ich ihn in unserer Bibliothek stöbern, denn die empfindlichen Lieblingsbücher hatten wir sowieso in unseren Zimmern oder im Büro. Nach kurzer Zeit hatte Trolli sich in ein reich bebildertes Lexikon vertieft, das mir schon immer sehr geeignet für junge Leute erschienen war.

Wir Frauen konnten uns also in aller Ruhe dem Frauengespräch widmen. Die beiden Schwangerschaften versorgten uns mit reichlich Gesprächsstoff. Nach einer Weile stellte ich fest, dass die beiden jungen Frauen sich gut verstanden. Das fand ich sehr praktisch, denn so konnten sie sich später auch ohne mich gegenseitig unterstützen. Als der Gesprächsfluss etwas langsamer wurde, nutzten wir die Gelegenheit, um die Gymnastikübungen zu machen, die ich gerade beim Eintreffen der neuen Gäste mit Beate hatte machen wollen. Auch die verschiedenen Atemtechniken übten wir gemeinsam. Beide Frauen forderte ich auf, die Übungen in Zukunft jeden Tag zu machen.

Zwischendrin schaute ich mehrmals im Netz nach dem Rechten, was die Frauen nutzten, um sich über zu strickende Kinderkleider, Bettchen und Windeln zu unterhalten. Sie schienen sehr froh zu sein, endlich einen Gesprächspartner gefunden zu haben, mit dem sie dieses Thema nach Herzenslust ausbreiten konnten.

Später kochten wir zusammen einen grossen Topf Eintopf, damit die heimkehrenden Waldarbeiter was warmes zum Essen vorfinden würden. Die Männer stürzten sich denn auch mit viel Appetit auf das Essen, als sie etwa andertalb Stunden vor der Dunkelheit heimkamen. Auch Trolli langte kräftig zu.

Dann war es für die Gäste höchste Zeit zum Aufbrechen, denn keiner wollte im Dunkeln heimkommen. Trolli hatte sich zwei Bücher ausgeliehen, die er in einer Woche wiederbringen wollte. Martin Friedrich versprach, die beiden Bewohner des grossen Dorfes noch bis nachhause zu begleiten, denn die Vorstellung an eine schwangere Frau und einen Junge in diesen Zeiten allein in der Dämmerung behagte keinem von uns. Mit seinem Fahrrad würde er anschliessend schnell wieder zu seinem Haus fahren können.

Die Holzausbeute war für den ersten Tag recht ordentlich gewesen, daher waren die Handwagen der beiden Männer überbordend beladen. Nach ein paar Tagen der Trocknung würde man mit diesem Totholz etwa drei Tage heizen können.

Später erzählte mir Felix noch von dem Baum, den sie gefällt hatten. Die Zusammenarbeit mit beiden Männern hatte gut funktioniert und Lutz Schweizers Erfahrung im Baumfällen hatte sich als sehr nützlich erwiesen. Für den Abtransport des Holzes würden sie sich aber noch etwas einfallen lassen müssen, denn mit der aktuellen Methode würden sie einen grossen Teil der kalten Jahreszeit im Wald verbringen müssen, um genug Holz herbeizuschaffen.

Zwei Tage später erwachten wir von einem Notruf aus dem grossen Dorf. Plünderer hatten im Morgengrauen angegriffen und zwei der Dorfwächter verletzt. Dank der Überwachungsanlagen waren die Dorfbewohner zwar schnell zur Hilfe geeilt, um die Plünderer in die Flucht zu schlagen. Aber die Verletzungen der Wächter hatten sie leider nicht verhindern können. Drei der Angreifer waren schon tot, als die Helfer eintrafen. Einige weitere wurden verletzt, bevor sie die Flucht ergriffen. Einer der verletzten Wächter hatte sogar noch mit seinem blutetenden Arm weitergekämpft.

Nun war meine Nähkunst gefragt. Ich fragte nach den Details der Verletzungen, um mir ein Bild machen zu können und das richtige Werkzeug mitzumnehmen. Derjenige mit dem verletzten Arm hatte anscheinend einen mittelstark blutenden tiefen Schnitt im Oberarm. Das klang nicht sehr besorgniserregend, würde aber wohl genäht werden müssen. Ich empfahl, die Schnittstelle mit einer sterilen Mullbinde fest zu umwickeln, damit die Blutung nachliess, bis ich im Dorf eintreffen würde.

Die Verletzung des anderen Mannes war erheblich schwerwiegender. Er hatte eine sehr grosse Bauchwunde. Die grobe Beschreibung klang alles andere als harmlos.

"Legen Sie ein steriles Brandwundentuch aus dem Verbandskasten ganz vorsichtig auf die Wunde. Und bewegen Sie den Verwundeten nicht von der Stelle. Er soll da liegenbleiben, wo er momentan liegt. Aber halten Sie ihn warm. Versorgen Sie ihn mit sovielen Decken wie möglich. Auf keinen Fall darf er etwas trinken oder essen, auch wenn er noch so sehr darum bittet. Nur die Lippen dürfen Sie ihm befeuchten. Und... und holen Sie seine Familie.", sprach ich in das Funkgerät.

Mir war gar nicht wohl bei der Sache. Ob ich dieser Aufgabe gewachsen sein würde?

Meine medizinische Notfallausrüstung war zwar geeignet, um Wunden zu vernähen, aber ich hatte bei der Anschaffung eigentlich gehofft, dass im Ernstfall ein Arzt in der Nähe wäre, der das Nähen dann übernehmen würde. Ärzte gab es schliesslich wie Sand am Meer. Sie hatten nur nicht immer ihre Notfallausrüstung dabei. Aber im näheren Umkreis gab es offensichtlich keinen Arzt, sodass ich diejenige mit der grössten medizinischen Erfahrung war.

Während ich mit leicht zitternden Händen mein Nähzeug zusammenpackte, erkundigte sich Felix genauer, wohin die Plünderer geflohen waren, nicht dass ich ihnen auf meinem Weg ins Dorf direkt in die Arme laufen würde. Da die Plünderer in die entgegengesetzte Richtung geflohen waren, liess Felix mich ziehen, ohne sich übermässig grosse Sorgen zu machen.

Wie der Blitz fuhr ich auf meinem Fahrrad den Berg hinunter. Die kalte Morgenluft wehte mir um die Nase, die davon bestimmt ganz rot wurde. Nach kurzer Zeit war ich im grossen Dorf angekommen.

An der Unglücksstelle hatte sich eine kleine Menschenmenge versammelt. Der Mann mit der Armwunde sass auf einem Gartenstuhl, der wahrscheinlich auch bei der Wache benutzt wurde und erzählte den Umstehenden wohl zum wiederholten Mal von den Ereignissen. Sein Oberarm war verbunden und schien ihn nicht sehr stark zu beeinträchtigen. Ich nickte ihm zu und sagte ihm, dass ich mich bald um ihn kümmern würde. Zur Stärkung empfahl ich ihm einen Kaffee, der den Kreislauf stabilisieren würde. Eine grosse Tasse Kaffee wurde auch sogleich organisiert.

Dann wandte ich mich dem Schwerverletzten zu. Die Dorfbewohner hatten sich sorgfältig an meine Empfehlungen gehalten und den Mann in mehrere Decken gehüllt, um ihn zu wärmen. Seine Frau sass tränenüberströmt neben dem Bewusstlosen und hielt seine Hand. An sie gekauert hockte ein kleines Mädchen, das quengelnd an ihr rumzupfte. Eine ältere Frau versuchte das Kind zu beruhigen und nahm es auf den Schoss. Ob das seine Familie war? Rundherum hockten noch andere Leute, teilweise damit beschäftigt, dem Verletzten die Stirn abzuwischen oder die andere Hand zu halten.

Vorsichtig entfernte ich die Decken im Bauchbereich, denn ich wollte mir die Wunde anschauen. Ein hilfsbereiter Mann drehte der Frau des Verletzten den Kopf zur Seite, als ich das Brandwundentuch anhob. Die Verletzung war wirklich sehr schlimm. Schaumiges Blut trat im oberen Bereich aus, weiter unten konnte man fast nichts erkennen vor lauter Blut. Das Gesicht des Mannes war wachsweiss. Selbst die Lippen konnte man schon fast als weiss bezeichnen, wenn auch noch ein leicht bläulicher Schimmer zu erkennen war.

Ich schüttelte den Kopf und legte das Brandwundentuch wieder an Ort und Stelle. Während ich die Decken wieder zurechtlegte, überlegte ich fieberhaft, was jetzt die richtige Vorgehensweise war. Für mich sah es so aus, als hätte der Mann keine Chance zu überleben, wenn er nicht sofort von einem Spezialisten-Team operiert werden würde. Aber ich war mir keineswegs sicher, wie schnell das Sterben gehen würde. Vor allem fragte ich mich, ob es irgendetwas gab, was ich tun konnte, um ihn eventuell zu retten oder ihm zumindest seinen Zustand zu erleichtern.

Alle schauten mich erwartungsvoll an, als könnte ich ihnen ein Wunder bringen. Ich musste eine Entscheidung treffen.

"Er bräuchte mehrere Ärzte und eine Intensivstation, um gerettet zu werden und selbst dann wäre ich nicht sicher, ob es reichen würde. Ich kann ihn mit meinen bescheidenen Mitteln nicht retten. Das einzige, was ihn jetzt noch retten könnte, wäre seine Lebenskraft, aber ich fürchte, seine Verletzungen sind zu schwer. Am besten lassen wir ihn hier noch eine Weile liegen, um ihn nicht zusätzlich zu erschüttern, und warten ab, wie es sich entwickelt.", schlug ich vor.

Die Umstehenden nickten verständnisvoll, als hätten sie mit so einer Hiobsbotschaft gerechnet. Die Frau des Mannes schluchzte jedoch laut auf, als ihr bewusst wurde, dass sie ihren Mann wohl verlieren würde.

Das Schluchzen seiner Frau holte den Verletzten aus seiner Bewusstlosigkeit. Seine Augenlider flatterten, bis er sie ganz öffnete und den Blick seiner Frau suchte. Dann blickte er suchend in der Menge umher, bis er fand, wen er suchte.

Ganz leise konnte man ihn flüstern hören: "Markus, kümmer dich um meine Familie. Ich machs nicht mehr lange.".

Der Angesprochene nickte und versprach dem sterbenden Familienvater, sich um seine Familie zu kümmern.

Der Blick des Sterbenden wandte sich wieder seiner Frau zu. "Emma ich liebe dich.", sagte der Man kaum hörbar. "Gib mir die Kleine nochmal.", bat er.

Die Grossmutter rutschte mit der kleinen Tochter näher an den Verletzten heran.

"Meine Kleine, ich hab dich lieb. Versprichst du mir, dass du immer lieb zu deiner Mutter sein wirst.", sagte er.

"Ja klar Papi, aber was ist mit dir? Warum liegst du hier und alle gucken traurig?", fragte das Mädchen ihren Vater.

"Ich glaube, ich sterbe jetzt. Und dann komm ich hoffentlich in den Himmel. Von dort aus werde ich immer nachschauen, ob es dir gut geht. Nun geh und spiel.", erklärte der Vater.

Die Grossmutter verstand den Wink, nahm ihre Enkelin etwas beiseite und fing an, ein fingerspiel mit ihr zu spielen.

Den Verletzten hatte das Sprechen wohl überfordert, denn er bekam einen Hustenanfall, bei dem ihm ein Rinnsal Blut aus dem Mundwinkel lief.

Er schaute seiner Frau in die Augen, bewegte seine Lippen als wollte er nochwas sagen, aber da brach sein Blick und sein Körper erschlaffte.

Keiner der Umstehenden wagte zu atmen, bis das laute Aufschluchzen der Ehefrau die Spannung löste. Plötzlich waren alle sehr damit beschäftigt, die Frau zu trösten und dem Toten nochmal die Schulter zu drücken. Ich ging ans Kopfende des Mannes, schloss ihm die starrenden Augen und zog ihm die Decke über den Kopf. Dann schaute ich, ob einer der Anwesenden die Initiative übernehmen würde. Der Mann, der versprochen hatte, sich um die verwaiste Familie zu kümmern, schien diese Aufgabe übernehmen zu wollen, was mich sehr erleichterte.

Nun konnte ich mich dem anderen Verletzten widmen. Ich ging hinüber zur anderen Gruppe und nickte traurig, als ich gefragt wurde, ob der Schwerverletzte gestorben sei. Den am Arm verletzten Mann forderte ich auf, vorsichtig in ein Haus zu gehen, in dem er sich hinlegen konnte, denn im Sitzen wollte ich ihm die Nähaktion nicht zumuten. Zwei Dorfbewohner halfen ihm auf, aber er schien relativ gut in der Lage, aufrecht zu stehen, daher war es letzlich nur einer, der ihn am unverletzten Arm ergriff und ins Dorf begleitete.

Wir gingen zum zweiten Haus hinter dem Dorfeingang, das anscheinend dem Helfer gehörte, denn dieser hatte einen Schlüssel, um die Tür zu öffnen. Dem Verletzten wurde ein breites Sofa angeboten, was er dankend annahm. Ich entfernte den Verband und sah mir die Wunde genau an. Sie war zwar fast zehn Zentimeter lang und klaffte auseinander, aber sie sah sauber aus, was mich sehr erleichterte. Beim Abnehmen des Verbandes merkte ich, dass meine Hände immernoch zitterten. Hoffentlich würden sie sich wieder beruhigen, bis ich mit der Arbeit anfangen musste. Aus meiner Tasche holte ich eine Flasche Schnaps, Desinfektionsmittel, sterile Handschuhe und mein eingeschweisstes Nähwerkzeug. Den Schnaps hatte ich zwar vorwiegend als Desinfektionsmittel eingelagert, für Zeiten, in denen es keine medizinischen Desinfektionsmittel mehr gab, aber als Ersatz für eine örtliche Betäubung würde er bestimmt auch dienen. Der Verletzte nahm mein Angebot gerne an und stürzte die zwei Gläschen Schnaps zügig hinunter.

Das Vernähen von grossen Wunden hatte ich zwar mal an einem Spanferkel geübt, aber noch nie an einem lebenden Menschen. Daher war ich ziemlich aufgeregt. Ein Teil von mir war aber von den Ereignissen so durcheinandergewirbelt, dass es mir wie ein Film erschien, in dem es ganz normal war, dass ich jetzt eine Wunde vernähen würde.

Also zog ich mir die sterilen Handschuhe an, desinfizierte die Wunde und ergriff die Nadel. Beim ersten Stich zuckte der Verletzte zusammen, aber es funktionierte, denn der Knoten schien zu halten. Bei den nächsten Stichen wusste ich schon eher, wie gross der Widerstand der Haut war, was mir half, die Stärke der Stiche besser einzuschätzen. Nach zehn Stichen war die Wunde geschlossen. Sie sah genauso hässlich aus, wie frisch zusammengenähte Wunden sonst auch aussehen. Das Legen eines neuen Verbandes war nach dem komplizierten Nähen das reinste Kinderspiel.

Der Besitzer des Hauses brachte eine Flasche guten Weinbrand, den er in drei Gläser goss. Obwohl ich tagsüber normalerweise nichts trank, nahm ich das Angebot gerne an, denn das Geschehen hat auch mir zugesetzt. Anschliessend machte ich mich wieder auf den Heimweg.

Die anstrengende Fahrt nach Hause tat mir gut, denn so konnte ich die aufgewirbelten Gefühle in Bewegung umsetzen. Oben angekommen dachte ich schon, dass ich es ganz gut überwunden hätte, aber als ich mich in Felix Umarmung wiederfand und erzählte, was vorgefallen war, strömten die Tränen ohne enden zu wollen.

"Mein erster Patient, und er stirbt mir gleich unter den Händen weg. Ich sollte die Finger von der medizinischen Hilfe lassen.", schluchzte ich.

"Mädchen, Mädchen. Der Mann wäre bestimmt auch mit einem qualifizierten Notarzt und Rettungshubschrauber gestorben. Und dem anderen Verletzten konntest du doch gut helfen. Auch den schwangeren Frauen geht es gut. Verlang nicht zuviel von dir.", versuchte Felix, mich zu trösten.

Das Trösten gelang auch, denn nach einer Weile konnte ich mich wieder beruhigen. Felix erzählte mir inzwischen davon, wie man das Überwachungsnetzwerk erweitern könnte, um solche Ereignisse in Zukunft zu verhindern. Ausserdem erklärte er mir, dass dieser Überfall eigentlich schon ein grosser Erfolg für die Dorfbewohner sei, denn die Plünderer wurden noch vor dem Dorfeingang aufgehalten. Die eigenen Toten, die sie zu beklagen hatten, würden sie vielleicht in Zukunft von dem wehrhaften Dorf fernhalten.

Um mich abzulenken nahm ich die Arbeit im Garten wieder auf, aber in den nächsten Tagen ging mir der Tod des Dorfbewohners immer wieder durch den Kopf.

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