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EMP - Ein Survivalroman

Kapitel 12


  
Der nächste Tag begann wie der letzte. Rund um Ulli herum wimmelte es vor Leuten und es summte nur so vor lauter menschlichen Geräuschen. Ulli tat der Rücken von der ungewohnt harten Schlafunterlage weh. Schlaftrunken stellte er sich an der Kloschlange an.

Dies war der Tag, an dem es die drei Tagesrationen gab. Also weniger Schlangen zum durchwarten. Das gab dem Tag einen gewissen Hoffnungsschimmer. Also stellte sich Ulli gleich nach dem Toilettenbesuch in die Schlange für die EPA-Ausgabe, die schon eine enorme Länge hatte. Seinen Rucksack schleppte er Zentimeter für Zentimeter mit.

Wieder und wieder rätselte er über den Unsinn dieser enormen Menschenzeit-Verschwendung und über mögliche Lösungswege. Dass die Leute irgendwas tun müssten, wo es doch so viel zu tun gab, lag auf der Hand. Aber wie könnte man das auf die Schnelle so reibungslos organisieren, dass es sich auch lohnte?

Die Schlange bewegte sich nur sehr langsam vorwärts. Dabei dürfte die Ausgabe von drei Päckchen doch nicht solange dauern. Aber anscheinend gab es nur eine Schlange für alle Leute. Ulli taten immernoch die Füsse weh, inzwischen wohl vom vielen Rumstehen.

Irgendwann nach geraumer Zeit traf Ulli einen entfernt bekannten Studienkollegen, der an der Schlange entlang auf und ab ging. Bei Ulli blieb er stehen und die beiden grüssten sich und hielten ein Schwätzchen. Nach einer Weile schlug der Studienkollege Ulli vor, dass er auf Ullis Rucksack aufpassen könnte, während Ulli für beide die EPAs besorgte. Ulli fand die Idee sehr erleichternd und verabredete einen Treffpunkt, an dem der Andere mit dem Rucksack auf ihn warten würde.

Nun stand er da mit zwei Bezugsscheinen in der Hand. Aber immerhin war sein Warten jetzt doppelt so effektiv. Der Studienkollege hatte einen netten Eindruck gemacht. Es gab also doch noch Menschlichkeit untereinander und nicht nur stumpfes Schlangestehen. Ermutigt setzte er seine Füsse Schrittchen für Schrittchen zentimeterweise voreinander. Immerhin musste er jetzt nicht mehr den schweren Rucksack mitschleppen. So ein kleines Stück Papier war doch erheblich leichter.

Etwa eine Stunde später kam er endlich an die Reihe und erkannte dann auch, warum es solange gedauert hatte. Obwohl es eigentlich nur darum ging, die Bezugsscheine entgegenzunehmen, zu entwerten und die EPAs auszuhändigen, waren fünf Militärs mit diesem Prozess beschäftigt. Eine genaue Überprüfung auf Echtheit war ja durchaus sinnvoll, aber die Soldaten schienen sich eher im Weg zu stehen. Und weil schon soviele Leute für die eine Ausgabestelle benötigt wurden, gab es wohl nur diese eine.

Schliesslich stand er da, bepackt mit seinen sechs EPAs, nachdem er glaubhaft versichert hatte, dass die zweite Ladung für einen Freund sei. Sofort ging er Richtung Treffpunkt, den er mit dem Studienkollegen vereinbart hatte. Die EPA-Pakete waren nämlich sperrig, wenn man unter jedem Arm drei davon tragen musste und schnitten mit den Kanten schmerzhaft in die Arme.

Bald hatte er den Treffpunkt erreicht, aber vom Anderen war keine Spur. Naja, er konnte ja auch ein Weilchen warten und dabei erstmal etwas essen.

Interessiert entfernte er die Verpackung des ersten EPA-Paketes. Als er den Inhalt sah, war sein erster Gedanke: Und das soll ich alles an einem Tag essen. Das schaff ich ja nie in so kurzer Zeit. Er breitete den Inhalt vor sich auf dem Boden aus, der an dieser Stelle erfreulicherweise ziemlich sauber und eben war.

Zwei Päckchen waren recht gross und abgerundet rechteckig. Aluschalen mit Deckel. Cevapcicci stand auf dem einen und Gulasch mit Kartoffeln auf dem anderen. Das waren offensichtlich Hauptgerichte, aber warum zwei für einen Tag? Und wie sollte man die warm kriegen? Seinen verhängnisvollen kleinen Kocher hatte er im Wohnheim gelassen. Bei der Essens-Ausgabe hatten die irgendwas mit Wasserbad gesagt, und dass es da Plätze für gebe, wo heisses Wasser zur Verfügung stand. Wieder Schlangestehen, diesmal für heisses Wasser?

Dann gab es Obsalat. Das war mal ne gute Idee, den konnte man auch einfach so essen. Weil Ulli inzwischen ziemlich hungrig war, öffnete er den Obstsalat sofort und schnüffelte vorsichtig daran. Begeistert war er vom ersten Eindruck nicht, aber er dachte sich, dass man bei solchen Rations-Nahrungen auch nur fad schmeckende Dosenkost erwarten konnte. Immerhin war der Obstsalat süss und saftig und das hob die Stimmung.

Als nächstes stiess er auf Vollkorn-Brot und Hartkekse und diverse Brotaufstriche. Weil er gerade Appetit auf süss hatte, öffnete er die Konfitüre und bestrich einen der Hartkekse damit. Wie gut, dass er gute Zähne hatte. Die Kekse waren schon ziemlich knackig. "Hartkekse" traf es ganz gut.

Etwas traurig betrachtete er das Kaffee- und das Tee-Pulver. Obwohl er zu den unkomplizierten Menschen gehörte, die beides mögen, hatte er dennoch kein heisses Wasser, um sich eins davon zuzubereiten. "Dafür gibt es bestimmt auch eine Schlange." dachte er sich. Immerhin war der Obstsalat flüssig gewesen, wenn auch ziemlich süss. Wo war noch gleich, die nächste Wasserausgabe-Stelle? Zur Zeit konnte er sich sowieso nicht vom Platz bewegen, weil er ja auf seinen Studienkollegen wartete.

Also setzte er seine Begutachtung des EPAs fort. Ausser den Brotzutaten und den Hauptmahlzeiten gab es noch Schokolade und Kaugummi. Die Schokolade wollte er sich für später aufheben; sie sah auch nicht sehr verlockend aus. Und den Unsinn mit dem Kaugummi haben sie bestimmt den Amis nachgemacht. Normalerweise kaute Ulli fast nie Kaugummi, aber vielleicht konnte man sich damit ja die Wartezeit vertreiben. Er steckte sich also einen der Kaugummis in den Mund und packte den Rest des Tages-Vorrats wieder so gut wie möglich ein. Dabei verweilte sein Blick noch eine Weile bei den verschiedenen Tüchern, den Streichhölzern und den Wasser-Desinfektions-Tabletten. Er wäre froh gewesen, wenn er einen Einsatz-Zweck für Streichhölzer und Wasser-Desinfektion gehabt hätte. Aber auf das Wasser würde er wohl noch etwas warten müssen.

Inzwischen hatten es sich mehrere Leute neben ihm bequem gemacht und auch ihre Ess-Pakete geöffnet. Ulli kam sogar ein bisschen ins Gespräch. Einer bot ihm etwas Wasser an, was er dankend entgegennahm. Jetzt war das Durst-Problem erstmal abgewendet. Seine Mit-Lagerinsassen fanden das Leben im Lager auch sehr merkwürdig. Alle ärgerten sich über die langen Schlangen. Dann tauschten sie Tipps über kurze Kloschlangen und angebliche Heisswasser-Stellen aus, die sie auf dem Weg zur Essensausgabe gesehen hätten.

In der Nähe wurde es plötzlich laut. Eine Gruppe Männer hatte offensichtlich eine Auseinandersetzung. Nach kurzer Zeit schlugen zwei Männer aufeinander ein und es sah ziemlich brutal aus, bis die umstehenden Männer die beiden Streihähne trennten, nicht ohne ihrerseits laut zu schimpfen. Einer der prügelnden Männer blutete aus der Nase und der andere stand gekrümmt da, als würde ihm der Bauch wehtun.

Ullis Sitznachbar schüttelte den Kopf. Ihm gefiel sowas wohl genausowenig wie Ulli. Sie unterhielten sich ein Weilchen über die Schlechtigkeit des Tieres Mensch und kamen ins philosophieren. Irgendwann hörte man Gitarrenklänge und nach kurzer Zeit gesellten sich Trommeln und Gesang dazu. Das gefiel den Leuten schon besser und die allgemeine Stimmung hob sich deutlich.

Mehrere Stunden später war Ullis Studienkollege immernoch nicht da. Ulli fragte vorbeigehende Leute, ob sie jemand in seinem Alter mit Rucksack gesehen hätten. Doch keiner konnte ihm weiterhelfen. Inzwischen drückte ihn seine Blase gar fürchterlich. Er beschloss, seinen Warteplatz möglichst kurz zu verlassen, um pinkeln zu gehen. Seine Sitznachbarn informierte er und bat sie, seinen Studienkollegen zu bitten zu warten, weil er in der Kloschlange stünde.

Dann musterte er seine EPAs. Sperrig waren sie. Damit konnte er keine ganze Kloschlange durchstehen, ohne dass ihm die Arme abfielen. Also zog er seinen Gürtel aus der Hose und versuchte, die Pakete zusammenzubinden. Nach ein paar Versuchen passte es endlich und er pries seinen überlangen Gürtel, der ihn sonst mit seiner Länge immer eher geärgert hatte.

Und so zog er los, um sich in eine möglichst kurze Kloschlange einzureihen. Unruhig tippelte er von einem Bein aufs andere, nicht nur, weil er pinkeln musste, sondern auch wegen seiner Besorgnis. Allmählich hatte er Angst um seinen Rucksack und in Gedanken war er ihm gar nicht mehr so lästig, wie er ihm in den letzten Tagen erschienen war. Der Rucksack war ja schliesslich seine ganze Existenz, mal abgesehen von ihm natürlich. Er hätte nichtmal einen Schlafsack um sich in der Nacht warmzuhalten. Und seine Jacke hatte er auch in den Rucksack gesteckt, als ihm morgens warm geworden war.

Immer wieder sprach er vorbeigehende Leute an, beschrieb seinen Studienkollegen und fragte, ob sie ihn gesehen hätten. Alle verneinten. Er kam sich schon ganz blöd vor, soviele Leute anzusprechen. Sowas war sonst gar nicht seine Art. Doch die meisten der Angesprochenen waren freundlich und verständnisvoll.

Auch als er nach geraumer Zeit wieder zum Treffpunkt kam, hatte niemand seinen Studienkollegen gesehen. Also wartete er weiter. Nach einer langen Stunde Wartezeit, entschloss er sich, wenigstens Wasser zu besorgen und stellte sich wieder in eine Schlange. Anstelle des Rucksacks schleppte er jetzt immer die EPAs mit sich rum. Das war eigentlich kein grosser Unterschied, was die Unbequemlichkeit anging. Wie gerne hätte er drei der EPAs gegen seinen Rucksack eingetauscht. Inzwischen hatte er richtig Sehnsucht nach seinem Rucksack. Als wäre der Rucksack sein letztes Stückchen Zuhause gewesen.

Eigentlich war der Tag ganz nett und freundlich, wenn Ulli nur nicht solche Sorgen gehabt hätte. Immer wieder verbrachte er Stunden wartend am Treffpunkt. Allmählich sank seine Hoffnung und er fragte sich, ob er vielleicht Opfer eines Betruges geworden war. Je mehr Stunden verstrichen, desto wahrscheinlicher schien es ihm, dass er mal wieder der Dumme gewesen war. Sein Magen verknotete sich zusehens und die Wichtigkeit des Rucksacks wuchs ins Unermessliche.

Als sich der Nachmittag dem Abend näherte, beschloss er sich in der Decken-Ausgabe eine Decke zu holen, damit er in der Nacht niht erfrieren würde. Nach der üblichen Wartezeit wurde er ausgiebig befragt, warum er denn jetzt erst eine Decke wollte, wo er doch laut Flüchtlings-Schein schon drei Tage hier war. Sein trauriges Stammeln überzeugte sie aber irgendwann, dass er sich keine doppelten Leistungen erschleichen wollte, und er bekam eine kratzige Wolldecke, wie er sie auch schon bei vielen anderen gesehen hatte. Die musste er jetzt auch noch irgendwie mit rumschleppen. Ach was hätte er seinen Rucksack gern wieder.

Anschliessend ging er nochmal mit schwacher Hoffnung zum Treffpunkt, aber traf wieder niemanden mit seinem Rucksack an. Sein Hunger trieb ihn schliesslich zur Heisswasser-Schlange aber nach kurzer Beobachtung der Vorgänge der Spitze der Schlange in der Ferne überschlug er, dass er bis in die tiefe Nacht hinein würde warten müssen, bis er eine warme Mahlzeit hätte. Auf den Packungen der Mahlzeiten konnte man lesen, dass sie 20 Minuten im Wasserbad aufwärmen mussten. Entsprechend chaotisch ging es an den Heisswasser-Töpfen zu.

Er beschloss also, das Essen kalt zu versuchen, obwohl er sich klar war, dass es für eine geöffnete Packung kein Wasserbad mehr geben würde, egal wie grässlich sie kalt schmecken würde. Und so öffnete er die Packung zögernd und schnupperte erstmal am Inhalt. Gar nicht so schrecklich schlecht. Er zückte seinen Löffel, den er glücklicherweise noch bei sich trug und probierte eine Löffelspitze voll. Mhmm, fast schon gut. Er ass einen grösseren Löffel voll und seufzte zufrieden. Der Geschmack war nicht andeutungsweise so schlecht, wie ihm sein Vater immer von EPAs berichtet hatte. Vielleicht hatten die Hersteller das Rezept geändert. Es schmeckte sogar ein bisschen nach Urlaub am Mittelmeer. Das kam wohl vom Cavapcicci-Flair. Und man konnte es durchaus kalt essen, obwohl es durch Aufwärmen sicherlich gewonnen hätte.

Seine Schlangen-Nachbarn sahen was er tat und wie er sich genussvoll die Lippen leckte und taten es ihm nach. Im Nu hatte sich ein Teil der Schlange von hungrigen ungeduldigen Menschen zu zufriedenen Schlemmern verwandelt. Die meisten suchten sich in der Nähe einen Platz zum sitzen und so entstand ein spontanes Picknick. Nachdem sie gesättigt waren, holten einige Leute Instrumente raus und begannen zu musizieren, und sogar Ulli konnte sich nach einer Weile so entspannen, dass er leise mitsummte.

Ein bisschen getröstet, aber dennoch schweren Herzens ging er später, immerzu nach links und rechts spähend, in der leisen Hoffnung den Anderen doch noch zu treffen, in das ihm zugewiesene Zelt und legte sich fröstelnd an seinen zugigen Platz. Der Schlafsack war besser gewesen, aber die kratzige Decke war immernoch besser als gar nichts und er wickelte sich so gründlich hinein, dass nur noch seine Nasenspitze und ein Haarbüschel rausschauten.

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