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EMP - Ein Survivalroman

Kapitel 4


  
Ulli hatte es eilig mit seinem Diplom als Versicherungs-Mathematiker, denn er wollte bald seinen Doktor in Angriff nehmen. Daher legte er seine Fachbücher selbst in der U-Bahn nicht zur Seite und lernte fleissig auf seinem Weg zur Uni.

Plötzlich ging das Licht aus und die U-Bahn blieb stehen. "Mist!", dachte Ulli, während er das Buch blind in seine Tasche steckte. "womöglich komme ich zu spät zur Vorlesung." Zuspätkommen mochte Ulli gar nicht gern.

Die Mitfahrer in der U-Bahn wurden unruhig. Mehrere riefen nach dem Schaffner, obwohl eigentlich jeder wusste, dass es keine Schaffner mehr gab. Eine kräftige Stimme rief energisch "Ruhe bewahren! Es nützt überhaupt nichts, wenn Sie jetzt unruhig werden. Warten Sie ab, bis die Fahrt weitergeht."

Ulli war froh, dass es anscheinend überall jemand gab, der für Ordnung sorgte, wenn Chaos ausbrach. Leider konnte er selbst sich nicht so gut durchsetzen, dafür war er ein begabter Mathematiker und als solcher auch in schwierigen Zeiten sehr gefragt. Die Wartezeit nutzend ging er noch ein paar Primzahlen durch, um sein Gedächtnis zu trainieren.

Als sich nach fünf Minuten nichts rührte, wurden die Leute wieder unruhig. Einer schlug vor, die Tür zu öffnen und zu Fuss zur nächsten Station zu laufen. Andere wandten ein, dass dies gefährlich sei, wegen der stromführenden Schienen. Erstmal tat sich nichts wesentliches, einige Leute fingen an miteinander zu plaudern und in mehren Ecken hörte man es knutschen und leise kichern. Eine Mutter schimpfte mit ihrem quengelnden Kind.

Nach weiteren zehn Minuten hörte man, wie im Nebenwaggon die Tür eingeschlagen wurde und da liessen sich auch die Fahrgäste in Ullis Waggon nicht mehr halten und brachen die Tür gewaltsam auf.

Draussen erwartete sie Dunkelheit. Pechschwarze Dunkelheit. Ein Kind fing an zu schreien und eine Frau kreischte hysterisch.

Da plötzlich ein Licht! Ein winzigkleines Licht, aber immerhin. Im Schein des Lichtes sah man das Gesicht der Mutter, die vorhin mit ihrem Kind geschimpft hatte. Sie hatte die kleine Taschenlampe wohl in ihrer Handtasche gehabt und gab damit jetzt allen Mitfahrern neue Hoffnung.

Der Mann mit der Kommandostimme rief "Allesamt eine Kette bilden! Sie da mit der Lampe, kommen Sie zu mir nach vorne, damit wir den Weg ausleuchten können."

Und so zogen sie in einer langen Kette durch die Dunkelheit. Aus den anderen Waggons schlossen sich ihnen noch viele andere Fahrgäste an. Einige hatten Feuerzeuge oder Streichhölzer am brennen und noch ein paar andere hatten kleine Taschenlampen. Dennoch blieb die Szenerie mehr als finster.

Ein paar Frauen hatten Probleme mit ihren Schuhen, deren Absätze auf der unebenen Strecke hängenblieben. Eine verstauchte sich ziemlich bald den Knöchel und musste in Gemeinschaftsarbeit mitgeschleppt werden.

Ulli fühlte sich sehr heldenhaft, als er dran war, die Frau beim Weitergehen zu stützen. Bisher hatte er nur selten die Gelegenheit gehabt, den edlen Retter zu geben.

Er musste an manche Filme denken, die er sich so angeschaut hatte, und wo der edle Retter sich durch Erdbebenhäuser und Vulkangebiete gekämpft hatte, um leicht zerzauste Damen in Not zu retten. Diesmal war er selber Held des Filmes, den er grad erlebte. Ob er sich wohl ebenso gut machte, wie Pierce Brosnan? Nun ja, so eine stehengebliebene U-Bahn war ja was anderes, als ein schweres Erdbeben. Die wirklich dramatischen Katastrophen kommen schliesslich immer nur im Fernsehen oder Kino vor.

Während er der ziemlich schwer werdenden Dame unverdrossen weiterhalf, dachte er bedauernd, dass heldenhafte Mathematik leider kaum vom weiblichen Geschlecht verstanden und geschätzt wurde. Da war sein kleiner Bruder besser dran. Durch seine Abenteuer beim Bund und auf dem Bau, war dieser ein wahres Prachtexemplar von Held geworden und zwar in einer Form, die auch von den Frauen geachtet wurde. Leider waren solch kraftzehrende Sportarten wie Bauarbeit nicht gerade Ullis Stärken und daher vermied er sie auch nach Möglichkeit.

Nunja, wenn er erst eine gutbezahlte Stelle hätte, würde sein Sexappeal schon steigen. Dessen war er sich sicher. Wenn nur diese Schuhe nicht so drücken würden.

Schliesslich erblickte der Trupp der U-Bahn-Wanderer eine Öffnung in der Röhre, aber Licht gab es dort auch nicht. Auf dem Bahnsteig waren mehrere Raufereien im Gange, zumindest hörte es sich so an.

Als sie den Bahnsteig erreichten und sich gegeseitig dabei halfen hinaufzuklettern, kamen mehrere Leute auf sie zu, anscheinend in angriffslustiger Stimmung. Der Mann mit der durchsetzungsfähigen Stimme rief kurz und zackig "Zur Seite, wir evakuieren Frauen und Kinder." Das klang wohl sehr offiziell, denn die potentiellen Angreifer zogen sich leise murrend wieder zurück.

Auf diese Weise erreichten sie nach längeren verwinkelten Wegen durch die dunkle U-Bahnstation ungeschoren das Tageslicht. Es blendete richtig, das Sonnenlicht wiederzusehen. Endlich waren sie gerettet.

Doch was sie erblickten, sah gar nicht nach Rettung aus. Auf der Strasse waren alle Autos ineinandergefahren und sahen grossteils sehr verbeult aus. Mitten im stehengebliebenen Verkehrsstrom stand ein lädierter Krankenwagen und auf dem Gehsteig war eine Art Open-Air-Lazarett aufgebaut worden. Dort standen und sassen etliche Menschen, die an der einen oder anderen Stelle bluteten.

Aber auch die unverletzten Fussgänger verhielten sich nicht wie sonst. Mal abgesehen von den Schaulustigen beim Lazarett, eilten die Meisten noch hektischer als sonst den Weg entlang, einige liefen jedoch auch ziellos hin- und her.

Ulli war erleichtert, dass seine Aufgabe als Held sich dem Ende näherte und begleitete seine verletzte Dame zu dem Krankenwagen-Lazarett. Dort durfte sie sich auf einen Hocker setzen und warten. Sie bedankte sich überschwenglich bei ihrem Retter, was Ulli für einen besonders erfreulichen Teil des Heldentums hielt. Zugleich wand er sich verlegen und versuchte ausserdem noch möglichst cool auszusehen, so als würde er täglich verletzte Frauen aus der dunklen U-Bahn retten.

Nun konnte er sich wieder seinem Studium zuwenden. Hoffentlich war er nicht allzu spät dran. Noch zwei Stationen zu Fuss von hier aus. Das gefiel ihm gar nicht, denn seine Füsse schmerzten jetzt schon. Aber es blieb ihm wohl nichts anderes übrig. Also machte er sich auf den Weg.

Unterwegs stellte er fest, dass anscheinend überall das Chaos ausgebrochen war. Sämtliche Autos standen mehr oder weniger verbeult und herrenlos auf der Strasse. Die Menschen liefen teilweise völlig wirr durcheinander, noch erheblich verwirrter als sonst. Ein Mann schlug wütend mit den Fäusten auf den Rolladen eines geschlossenen Geschäftes ein, bei einem anderen Geschäft rannten viele Leute förmlich raus, teilweise schwer bepackt.

An einer Strassen-Ecke stand ein bärtiger Mann auf einem kleinen Hocker und rief gestenreich "Das ist die Strafe Gottes. Bereut und bekehrt euch. Dann wird euch vergeben." Im Gegensatz zu den üblichen Besucherströmen bei solchen Strassen-Predigern hatte dieser wahre Zuhörer-Scharen.

Immer wieder schnappte Ulli im Vorbeigehen das Wort "Stromausfall" auf und einige schüttelten auch verzweifelt ihre Handies. Um das mit den Handies zu überprüfen, holte Ulli sein eigenes Handy aus der Jackentasche und schaltete es an. Nichts rührte sich - rein gar nichts. Ob er wohl wieder vergessen hatte, es aufzuladen. Oder war es kaputt, wie die der anderen Leute auf der Strasse?

Aber warum gehen Handies kaputt, wenn der Strom ausfällt? Ulli wollte normalerweise zwar die schöne Mathematik nicht mit physikalischen Profanitäten verunreinigen, aber so ganz spurlos war die Physik und vor allem die Elektrik doch nicht an ihm vorbeigegangen. Und üblicherweise sind bei Stromausfall nunmal die Batterie- und Akkugeräte im Betrieb. Selbst wenn die Sendestationen der Umgebung ausgefallen waren, hätte das Handy wenigstens leuchten und piepsen müssen. Und auch Autos hängen schliesslich noch nicht am Stromnetz. Warum waren die Autos alle stehengeblieben? Anscheinend sehr plötzlich, denn sonst wären sie nicht wahllos ineinander gefahren. Das alles gefiel Ulli überhaupt nicht und ein sehr ungutes vages Gefühl machte sich in ihm breit. Wo hatte er von sowas denn mal gehört? Es wollte ihm einfach nicht einfallen.

Nach einer Weile kam er an der Mensa vorbei, wo sich ganze Menschenmassen drängten und durcheinander redeten. Zufällig wurde er von einem Komolitonen entdeckt, der ihn herbeiwinkte. "Alle Vorlesungen fallen aus." rief er schon von weitem. "Wieso denn das?" fragte Ulli, als er näher herangekommen war. "Natürlich weil in der ganzen Stadt der Strom ausgefallen ist." antworte der Freund. "Oh, der ist in der ganzen Stadt ausgefallen?! Und ich dachte, nur unsere U-Bahn sei kaputt. Ich habe schon die reinste Odyssee hinter mir und die Hacksen tun mir weh." "Das ist wohl erst der Anfang der Party." meinte ein weiterer Mitstudent. "Du meinst das dauert länger?" "Klar, wenns was einfaches wäre, dann wär der Strom schon längst wieder da." "Und was sagt ihr dazu, dass auch Handies und Autos ausgefallen sind?" äusserte Ulli seine zuvor gehegten Gedanken.

Zuerst waren alle für einige Sekunden sprachlos. Dann redeten alle durcheinander. "Sag ich doch, das dauert länger.", "Und was hat das zu bedeuten?", "Ist mir ja noch gar nicht aufgefallen.". Ein Student aus einer anderen Fakultät stiess zu der kleinen Gruppe und fragte: "Schon mal was von EMP gehört?". "Nee, was ist denn das?", "Glaubst du, das war so ein ENP, oder wie das heisst?".

Als die anderen ihn zur Ruhe kommen liessen, erklärte der unbekannte Student, was ein EMP-Schlag sei, und dass alle Symptome dafür sprechen würden. "Jetzt ist nur noch unklar, ob nur unsere Stadt oder womöglich ganz Deutschland betroffen sind. Wenn es ganz schlimm ist, ist die gesamte zivilisierte Welt betroffen." Schweigen machte sich breit. Darauf fiel erstmal niemand etwas ein.

Die neue EMP-These gab der Studenten-Gruppe erstmal ausreichend Diskussions-Stoff, sodass ihnen zuerst gar nicht auffiel, dass die Mensa nicht öffnete, als eigentlich die Zeit dafür war. Allmählich verdichtete sich aber das Gedrängel im Eingangsbereich und irgendwann ging ein Raunen durch die Menge, als sich die Tür einen Spalt öffnete und ein Mann erschien. Er formte die Hände zu einem Trichter, den er sich vor den Mund hielt und rief "Hier bleibt es heute geschlossen. Gehen Sie zur Mensa in der Leopoldstrasse, dort gibt es eine funktionierende Küche für die Notversorgung."

Die Leopoldstrasse war zwar nicht weit weg, aber Ulli war dennoch nicht davon begeistert, seine strapazierten Füsse schon wieder in Bewegung zu setzen. Eine schnell wachsende Menschenschlange zog jedoch bald in Richtung Hauptmensa und bald schlossen sich auch Ulli und seine Freunde der Menschenmenge an. Im Prinzip war es ähnlich wie eine Demonstration, nur dass es diesmal eine Demonstration des Hungers war. Nach einer Weile begannen einige Grüppchen sogar ein paar szenetypische Lieder anzustimmen und so zog schliesslich eine singende immer länger werdende Menschenschlange durch die Innenstadt.

Endlich bei der anderen Mensa angekommen, konnten sie sich nahtlos an eine andere endlos scheinende Menschenschlange anschliessen, die schon auf das Essen wartete. Anscheinend war eine Art Notfallversorgung aufgebaut worden, denn nur ein Teil der Schlange zog ins Innere der Mensa, der grössere Teil verteilte sich auf mehrere Tischreihen, an denen Leute mit grossen Suppenschöpfern an riesigen Töpfen standen und jedem der kam, einen grossen Plastikteller voll Suppe schöpften. Zumindest sah es so ähnlich aus, denn auf die grosse Entfernung konnte man keine Details erkennen. Das sah nach einer längerdauernden Angelegenheit aus.

Die Mathematikstudenten liessen sich jedoch nicht verdriessen; schliesslich hatten alle einen unerwarteten freien Tag und nichts schien zu funktionieren, ausser dieser Essensschlange. Am meisten Spass machten den angehenden Versicherungsmathematikern, die Wetten die sie zur Höhe des Versicherungsschadens dieses denkwürdigen Tages abschlossen. Die meisten rechneten den Schaden in Bezug auf ganz München hoch. Ulli riskierte eine erheblich höhere Schätzung. Als seine Freunde ihn fragend anblickten, zuckte er nur mit den Achseln und sagte: "Und wenn es nun die ganze Welt betrifft?". Das glaubte natürlich keiner, aber die bange Frage war ausgesprochen worden. Die Stimmung wurde aber eher noch ausgelassener, als würde Albernheit helfen, die Bedrohung abzuwenden.

Zwischendurch ging mehrmals ein Ordner durch die Reihen der Wartenden und versorgte sie mit ersten offiziellen Informationen. Ja, Strom, Wasser und Gas von ganz München seien ausgefallen. In andere Städte bestünde zur Zeit keine Verbindung. Man wüsste nichts genaues. Nach dem Essen sollten alle in ihre Wohnungen zurückkehren und sich ruhig verhalten.

Nach gut drei Stunden war es endlich soweit. Es gab für jeden einen Teller Erbsensuppe und eine dicke Scheibe Brot. Ferner noch eine Literflasche mit Trinkwasser. Da waren sie aber besseres gewöhnt. Hungrig wie sie waren, schmeckte es aber erstaunlich gut.

Kurz bevor sie das Essen bekommen hatten, hatte noch einer erwähnt, dass man einen metallverpackten Weltempfänger bräuchte, um aktuelle Nachrichten zu erhalten. Das war im allgemeinen Gespräch eher untergegangen. Aber diese Bemerkung mit dem "metallverpackt" hatte irgendeine schwache Erinnerung in Ullis Kopf aktiviert und er versuchte, sich genauer zu erinnern. Als er seinen letzten Bissen nahm, fiel es ihm wieder ein: Seine Mutter hatte ihm mal eine gefüllte Metallkiste und einen Rucksack aufgenötigt und gesagt, die seien für Notfälle. Um sie nicht zu enttäuschen, hatte er die Sachen angenommen und im hintersten Eck seines grossen Schrankes vergessen. Hatte sie was von Radio gesagt? Wie ärgerlich; sie hatte ihm bestimmt alles Wichtige erklärt, aber er hatte nicht zugehört, denn dem Survival-Fimmel seiner Mutter konnte er einfach nichts abgewinnen. Aber jetzt könnte es vielleicht nützlich sein. Vielleicht hatte er ja tatsächlich ein Radio, dass noch funktionierte.

Also lud er seine Freunde ein, bei ihm nach einem Radio zu schauen. Da alle Pläne für den heutigen Tag sowieso über den Haufen geworfen waren, hatten alle Leute Zeit und freuten sich mitkommen zu können.

Dies war nun wirklich der Tag der ungewohnten Märsche. Von einer freundlichen Studentin hatte Ulli glücklicherweise zwei Pflaster bekommen, um seine dicken Blasen zu bekleben. Natürlich hatte er nicht selbst gewagt rumzufragen, aber einer seiner Mitstudenten war sehr kontaktfreudig und hatte die Pflaster für ihn organisiert. So zogen sie also erneut durch die Stadt, die fremd wirkte.

Die kaputten Autos standen immernoch auf den Strassen rum, Plünderer gab es wohl vermehrt, aber weil die Studenten einen grossen Bogen um Geschäfte und Menschenansammlungen machten, sahen sie keine Details. Viele Leute kurvten mit Fahrrädern um die Autowracks herum oder drängelten sich ganz ungeniert durch die Fussgänger. Die ganze Stadt schien unterwegs zu sein. Fast wie bei einem Volksfest.

Drei Blasen später erreichten sie endlich Ullis Wohnheim. Natürlich funktionierte seine Chipkarte für die Tür nicht mehr, stattdessen stand aber ein Mensch am Eingang, der sie einliess und die Namen und Zimmernummern notierte. In jedem Stockwerk hatte jemand Dienst, der für Ordnung sorgte und der die Zimmer aufschloss. Als alle Ullis Zimmer betreten hatten, war das Zimmer ziemlich vollgestopft. Fünf Besucher hatte er noch nie gehabt.

Er bahnte sich den Weg zu seinem grossen Schrank und versank fast darin auf der Suche nach der vergessenen Notfallkiste. Sie stand zwar ganz hinten unten, war aber so gross, dass er sie fast sofort entdeckte. Den gefüllten Rucksack, der darauf lag, warf er achtlos nach hinten und wuchtete die schwere Kiste nach draussen und stellte sie auf den Boden. Inzwischen war er schon sehr gespannt auf seine Wunderkiste.

Und siehe da: Ziemlich weit oben lag ein Päckchen aus Alufolie auf dem stand "Weltempfänger (Radio)". Er hob seinen Fund triumphierend in die Luft und packte das Päckchen dann vorsichtig aus. Einer seiner Freunde murmelte "Coole Alte hast du aber!". Ulli nickte geistesabwesend und konzentrierte sich auf das Gerät. Sah aus wie ein normales Radio, es gab nur mehr Einstellungsmöglichkeiten. "UKW" stand irgendwo drauf. Das kannte er, also probierte er es als erstes damit und hielt unbewusst den Atem an, als er versuchte das Gerät einzuschalten. Tatsächlich: es gab ein Rauschen und Fiepen von sich. Ulli war sehr erleichtert und fühlte sich mit einemmal sehr stark und kompetent.

Ein Drehen am Senderrädchen ergab mehr Fiepen und unterschiedliche Tonhöhen, aber keine menschliche Stimme. Als Ullis Hoffnung schon sank, bekam er endlich einen Sender rein. Und dann hörten sie die erschreckenden Nachrichten des Tages. Sie erfuhren, dass USA, Europa, Südostasien und Südindien von einem Ausfall nahezu aller elektronischer Geräte betroffen seien, was Ausfälle in den Strom-, Wasser-, Gas-, Lebensmittel-, Geld-Versorgungen zur Folge hatte. Sie erfuhren von den Plünderungen in allen Städten, den abgestürzten Flugzeugen und den Massenunfällen auf den Schnellstrassen.

Die Reaktion auf diese Nachrichten war sehr gemischt. Angst, Faszination, Betroffenheit, ein Hauch von Euphorie, der wohl damit zusammenhing, dass es sich irgendwie anfühlte, als wäre man plötzlich mitten in einem Katastrophen-Film. Darüber waren sich im Verlauf der folgenden Gespräche alle einig: Es fühlte sich an wie im Kino.

Neben der zwangsläufig folgenden hitzigen Diskussion wurde Ulli immer wieder ermuntert, seine Notfallkiste weiter auszuräumen. Da er selbst neugierig war, liess er sich nicht lange bitten. Die nächste Schicht bestand aus mehreren grossen Flaschen mit Wasser, einer Flasche Wein und handlichen Müsliriegeln. Der Wein und die Müsliriegel wurden ihm johlend aus der Hand gerissen. Einer sagte noch "Schliesslich ist ja heute Notfall." und riss den ergatterten Müsliriegel auf. Die nächste Schicht ergab Kartoffelbrei-Pulver, Tütensuppen, Salat im Glas, Pulver-Kaffee, Tee und weitere Nahrungsmittel. Darunter lag eine flache Schachtel mit der Beschriftung "Esbit". Ein Studienkollege, der Ulli "half" die Kiste leerzuräumen rief: "Cool, du hast einen Esbit-Kocher. Sogar die grosse Version mit der man richtig kochen kann. Sowas hatten wir auch beim Bund." Sprachs und riss die Schachtel auf, aus der eine Metallschachtel purzelte.

Schnell war eine Ecke des Tisches freigeräumt und eh Ulli sich versah, brannte in dem Blech-Klappdings ein kleines Feuer, das aus drei weissen Würfeln bestand. Genauso schnell stand dann einer seiner besten Töpfe auf dem kleinen Feuer, gefüllt mit Wasser.

Nachdem Ulli sich mit dem Anblick abgefunden hatte, dachte er bei sich: "Die Burschen, die wissen wenigstens, was man im Notfall tun muss. Ich hätte mir den Inhalt der Kiste bestimmt erst lange angeschaut, bevor ich auf die Idee mit dem Kochen gekommen wäre."

Der Wein war inzwischen schon leergetrunken, was bei fünf durstigen Kehlen kein Wunder war. Auch der Sixpack mit Bier, der noch in seinem lauwarmen Kühlschrank stand, war schnell geleert. Ulli hatte versäumt, sich rechtzeitig etwas von den Getränken zu sichern, aber das war ihm halbwegs recht, denn er wollte wenigstens einen klaren Kopf behalten. Ausserdem war inzwischen der Kartoffelbrei fertig, der mit den kalten Erbsen mit Möhren aus der Dose sehr gut schmeckte. Danach wurde eine Suppe gekocht und irgendwann waren alle satt.

Ulli war inzwischen schon sehr müde. Solche "Parties" feierte er sonst nicht so oft, vor allem nicht in seinem eigenen Zimmer. Also nahm er seinen ganzen Mut zusammen und bat die Freunde heimzugehen. Da alle im gleichen Wohnheim wohnten, sollte das kein Problem darstellen. Nach einer langen Viertelstunde hatten sich denn auch alle auf den Weg gemacht und Ulli sank erschöpft auf seinen Schreibtischstuhl.

Es sah aus wie nach einem Bombeneinschlag. Das Bett total zerwühlt, der komische Kocher stand immernoch auf dem Tisch, die Spüle stand voll mit Gerümpel, sein Papiermüll quoll über mit verschmierten Essenspackungen und Einmaltellern, auf dem Schreibtisch war Wein ausgelaufen und auf dem Teppich prangte ein dicker roter Fleck, der immer grösser wurde, weil der Wein nach wie vor vom Schreibtisch tropfte. Ulli war entsetzt.

Nach ein paar Schreckminuten raffte er sich jedoch auf und fing an, den gröbsten Schaden zu beheben. Das fing natürlich mit dem tropfenden Wein an, der ihn einige Minuten beschäftigte. Plötzlich roch er etwas merkwürdiges. Wie leicht angebrannt. Es roch schon eine Weile so. Ein Geruch wie beim Basteln. Er sah sich in Erinnerung, wie er mit einem kleinen Lötkolben Muster in Holz gebrannt hatte und immer sehr gut aufpassen musste bei dieser gefährlichen Tätigkeit.

Alarmiert schaute er auf und sah den Esbit-Kocher leise vor sich hinköcheln. Da war immer noch ein letzter Rest der Brennwürfel am Brennen und als Ulli näher hinschaute, wurde ihm schlagartig klar, warum er sich bei der Kochaktion so unwohl gefühlt hatte: Die Jungs hatten keine feuerfeste Unterlage druntergelegt. Geistesgegenwärtig griff er sich sein Kopfkissen, das auf dem Boden rumlag und erstickte damit die Flammen. Anschliessend nahm er zwei doppelt gefaltete Küchenhandtücher (ja, sowas besass er - schliesslich war er ein ordentlicher Mensch), ergriff den Kocher und warf ihn in die Spüle, die immerhin aus Metall bestand.

Der Tisch war ruiniert. Die Hitze hatte eine richtige Vertiefung in das Holz gefressen. Wie sollte er das dem Haus-Verwalter beichten?

Nach einer weiteren Stunde der Schadensbehebung im Kerzenlicht zog Ulli eine Bilanz seiner "Party". Sämtliche Nahrungsmittel waren aufgegessen und zu trinken gab es auch nichts mehr. Sein Klo war verstopft und in die segensreiche Notfall-Kiste war Bier gelaufen, wenn auch nicht sehr viel. Der Boden war ausser dem Weinfleck auch noch biergetränkt und stank. Den Rucksack hatte jemand anscheinend dazu benutzt, um seine Schuhe abzuwischen, auf jeden Fall war er inzwischen ziemlich schmutzig. Das Kopfkissen war völlig runiert. Seine Füsse wurden durch fünf Blasen geziert und ihm tat jeder Knochen weh.

Welch ein Tag! Er legte sich ins Bett, bettete sein müdes Haupt auf einen zusammengrollten Pulli, weil sein Kopfkissen ja versaut war und hatte den ganzen Kopf voll mit den heutigen Ereignissen. Zwischendrin stahl sich immer mal wieder die Erkenntnis in sein Bewusstsein, dass die chaotische Party nicht das schlimmste Ereignis dieses Tages gewesen war. Voller Sorgen schlief er irgendwann ein.


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EMP - Ein Survivalroman